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Sunday, September 28, 2008

Der Westen, die Propaganda und der Zynismus

Ossetien – Georgien – Russland – USA

Gehen wir auf einen zweiten Kalten Krieg zu?


von Noam Chomsky

12.09.2008 — Counterpunch

Entsetzt über die von den US-Streitkräften beim Einmarsch auf die Philippinen begangenen Gräueltaten und die literarischen Höhenflüge über Befreiung und gute Absichten, die routinemäßig Staatsverbrechen begleiten, gab sich Mark Twain geschlagen angesichts der Unmöglichkeit, seine mächtige Waffe, die Satire, einzusetzen. Das unmittelbare Objekt seiner Frustration war der berühmte General Funston. „Man kann Funston nicht perfekt karikieren,“ klagte Twain, „da Funston schon perfekt ist ... [er ist] die Satire in Person.“

Daran wird man oft erinnert, zuletzt im August 2008, während des Krieges zwischen Russland, Georgien und Ossetien. Feierlich beschworen George Bush, Condoleezza Rice und andere Würdenträger die Unantastbarkeit der Vereinten Nationen und machten Russland darauf aufmerksam, dass es aus internationalen Organisationen ausgeschlossen werden könnte, „wenn es in Georgien etwas unternimmt, was unvereinbar ist mit“ ihren Prinzipien. Die Souveränität und territoriale Integrität eines jeden Landes müssten strengstens beachtet werden, betonten sie, „eines jeden Landes“, das heißt, abgesehen von den Ländern, die die USA als Angriffsziel wählen, nämlich Irak, Serbien, vielleicht Iran, und eine Reihe anderer, zu viele und altbekannt, um sie hier aufzuzählen.

Auch der Juniorpartner machte mit. Der britische Außenminister David Miliband beschuldigte Russland, mit dem Einmarsch in ein souveränes Land „diplomatische Mittel aus dem 19. Jahrhundert“ einzusetzen, etwas, was Großbritannien heute nie in Betracht ziehen würde. Das „ist einfach nicht die Art und Weise, wie im 21. Jahrhundert internationale Beziehungen unterhalten werden können“, fügte er hinzu, den Oberentscheidungsfäller nachbetend, der sagte, dass ein Einmarsch „in ein souveränes Nachbarland ... im 21. Jahrhundert nicht akzeptabel ist.“ Mexiko und Kanada müssen also keine Angst mehr haben vor weiteren Invasionen und Annexionen großer Teile ihres Territoriums, da die USA nun nur in Staaten einmarschieren, die nicht an sie angrenzen, obgleich solche Einschränkungen für ihre Klienten nicht gelten, wie Libanon 2006 einmal mehr lernen musste.

„Die Moral dieser Geschichte ist sogar noch lehrreicher“, schrieb Serge Halimi in Le Monde diplomatique, „als der reizende pro-amerikanische Saakaschwili zur Verteidigung der Grenzen seines Landes einige der 2000 Soldaten heim ruft, die er zur Invasion des Irak geschickt hatte“, eines der größten Kontingente im Irak abgesehen von den zwei Kriegsstaaten.

Bekannte Analysten stimmten in den Chor ein. Fareed Zakaria applaudierte Bushs Äußerung, dass Russlands Benehmen, anders als im 19. Jahrhundert, „als die russische Intervention das normale Vorgehen einer Großmacht gewesen wäre“, heute nicht mehr akzeptabel sei. Wir müssen deshalb eine Strategie entwickeln, um Russland „auf eine Linie mit der zivilisierten Welt“ zu bringen, in der Intervention undenkbar sei.

Es gab freilich auch manche, die Mark Twains Verzweiflung teilten. Ein hervorragendes Beispiel ist Chris Patten, ehemals EU-Kommissar für Auswärtige Beziehungen und Vorsitzender der britischen Konservativen Partei, Kanzler der Universität Oxford und Mitglied des Oberhauses. Er schrieb, dass die Reaktion des Westens „ausreicht, um selbst Zyniker ungläubig den Kopf schütteln zu lassen“ – wobei er sich auf das Versagen Europas bezog, energisch auf die Unverschämtheit führender russischer Politiker zu reagieren, die „entlang ihrer Grenzen einen Einflussbereich haben wollen, wie Zaren des 19. Jahrhunderts.“

Patten macht zurecht einen Unterschied zwischen Russland und der Weltsupermacht, die vor langer Zeit den Punkt überschritt, an dem sie einen Einflussbereich entlang ihrer Grenzen forderte, und Einfluss auf die ganze Welt verlangt. Sie unternimmt auch alles, um diese Forderung durchzusetzen, ganz in Übereinstimmung mit der Clinton-Doktrin, dass Washington das Recht hat, militärische Gewalt einzusetzen zur Verteidigung vitaler Interessen wie „der Sicherung des ungehinderten Zugangs zu Schlüsselmärkten, der Energieversorgung und strategischer Ressourcen“ – und in Wirklichkeit zu noch viel mehr.

Natürlich begab sich Clinton nicht auf unbekanntes Gebiet. Seine Doktrin leitete sich von grundlegenden Prinzipien her, die während des 2. Weltkrieges von Planern auf höchster Ebene formuliert worden waren und Aussicht auf weltweite Vorherrschaft boten. In der Nachkriegswelt, so beschlossen sie, sollten die USA „eine unangefochtene Machtposition“ inne haben, während gleichzeitig sicher zu stellen sei, dass „jegliche Ausübung von Souveränität“ von Staaten, die die weltweiten Pläne der USA stören könnten, „begrenzt bliebe“. Um das zu erreichen, „[steht] an erster Stelle die rasche Verwirklichung eines Programms zur vollständigen Wiederaufrüstung“, ein Kernstück „eines Maßnahmenkatalogs, um die militärische und wirtschaftliche Vormachtstellung für die Vereinigten Staaten zu erreichen.“ Die während des Kriegs ausgeklügelten Pläne wurden auf verschiedene Art und Weise in den darauf folgenden Jahren realisiert.

Die Ziele sind fest in stabilen institutionellen Strukturen verwurzelt. Daher überdauern sie die Änderungen in der Belegung des Weißen Hauses und sind unbeeinflusst von der Gelegenheit zu „Friedensdividenden“, dem Verschwinden des Hauptrivalen von der Weltbühne und von anderen marginalen Nebensächlichkeiten. Neue Herausforderungen zu erfinden liegt nie außerhalb des Horizonts von Managern in Sachen Doktrin, wie z. B. Ronald Reagan, der seine Cowboystiefel anzog und einen landesweiten Notstand verkündete, weil die nicaraguanische Armee nur zwei Tage von Harlingen, Texas entfernt war und die Horden anführen könnte, die im Begriff sind, „über die Vereinigten Staaten hinwegzufegen und uns wegzunehmen, was wir haben“, wie Lyndon Johnson klagte, als er dazu aufrief, in Vietnam die Stellung zu halten. Am bedrohlichsten ist, dass diejenigen, die die Zügel in den Händen halten, möglicherweise tatsächlich glauben, was sie sagen.

Um auf die Bemühungen zurückzukommen, Russland in die zivilisierte Welt aufzunehmen – die sieben Gründungsmitglieder der Gruppe der Acht industrialisierten Länder veröffentlichten eine Erklärung, in der sie „das Vorgehen unseres G8-Partners verdammen“, d. h. Russlands, das die anglo-amerikanische Verpflichtung zur Nichteinmischung erst noch begreifen muss. Die Europäische Union berief einen seltenen Sondergipfel ein, um Russlands Verbrechen zu verurteilen, das erste solche Treffen seit der Invasion von Irak, welche keine Verurteilung hervorrief.

Russland forderte eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates, aber es wurde kein Konsens erreicht, da, wie aus diplomatischen Quellen des Rates verlautete, die USA, Großbritannien und einige andere einen Satz ablehnten, in dem beide Seiten dazu aufgerufen wurden, „auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten“.

Die typischen Reaktionen erinnern an Orwells Beobachtungen zur „Gleichgültigkeit“ des „Nationalisten“ „gegenüber der Realität“, der „nicht nur die von der eigenen Seite begangenen Gräueltaten nicht missbilligt, sondern ... eine bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, nicht einmal von ihnen zu hören.“

Die wesentlichen Fakten sind nicht wirklich umstritten. Südossetien wurde von Stalin zusammen mit der viel bedeutenderen Region Abchasien seinem Geburtsland Georgien zugeschlagen. Die westlichen Staats- und Regierungschefs drängen unnachgiebig darauf, dass Stalins Direktiven respektiert werden müssen, trotz der starken Opposition der Osseten und Abchasen. Bis zum Zusammenbruch der UdSSR waren die Provinzen relativ autonom. 1990 hob Georgiens ultra-nationaler Präsident Swiad Gamsachurdia die Autonomie der Regionen auf und marschierte in Südossetien ein. Der darauf folgende bittere Krieg kostete 1000 Menschenleben und machte Zehntausende zu Flüchtlingen. Die Hauptstadt Tschinwali blieb „zerbombt und entvölkert“ (New York Times) zurück.

Eine kleine russische Truppe überwachte danach einen bröckeligen Waffenstillstand, der effektiv am 7. August 2008 gebrochen wurde, als der georgische Präsident Saakaschwili seinen Truppen befahl einzumarschieren. Die Times berichtet, dass gemäß „einer großen Anzahl Zeugen“ das georgische Militär sofort damit „begann, sowohl die von der Zivilbevölkerung bewohnten Teile von Tschinwali als auch einen Stützpunkt der russische Friedenstruppen mit heftigem Sperrfeuer aus Raketen und Artillerie zu belegen.“ Die vorhersagbare russische Reaktion vertrieb die georgischen Truppen aus Südossetien, und Russland eroberte noch Teile Georgiens, bevor es sich teilweise in die Nähe von Südossetien zurückzog. Es gab viele Verletzte und Gräueltaten. Wie immer litten die Unschuldigen schwer.

Zunächst berichtete Russland, dass zehn Soldaten der russischen Friedenstruppen von georgischen Granaten getötet worden seien. Der Westen nahm das kaum zur Kenntnis. Das ist ebenfalls normal. Es gab zum Beispiel keine Reaktion auf einen Bericht in der Aviation Week im Jahre 1982, dass bei einem israelischen Luftangriff auf Libanon 200 Russen getötet wurden, während einer von den USA unterstützten Invasion des Libanon, bei der fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen ums Leben kamen, einer Invasion ohne glaubwürdigen Grund außer dem, die israelische Kontrolle über die besetzte Westbank zu stärken.

Unter den Osseten, die nach Norden flohen, „herrschte“ laut der Londoner Financial Times „die Meinung vor, dass der pro-westliche georgische Präsident, Michail Saakaschwili, versuche, ihre Enklave, die sich von Georgien abgetrennt hatte, auszulöschen.“ Ossetische Milizen vertrieben dann, unter den Augen der Russen, auf brutale Art und Weise die Georgier, auch aus Gebieten außerhalb Ossetiens. „Georgien behauptete, der Angriff sei notwendig gewesen, um einen russischen Angriff, der bereits begonnen hatte, zu stoppen“, berichtete die New York Times. Aber auch Wochen später „gibt es keine unabhängigen Beweise, außer dem georgischen Beharren, dass seine Version wahr sei, dass russische Truppen vor dem georgischen Beschuss angegriffen haben.“

Das Wall Street Journal berichtet, dass in Russland „Gesetzgeber, Beamte und einheimische Analysten sich die Theorie zu eigen gemacht haben, dass die Regierung Bush Georgien, ihren Verbündeten, ermutigte, den Krieg zu beginnen, um eine internationale Krise hervorzurufen, die wiederum die Erfahrung des Senators John McCain, dem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, im Bereich nationale Sicherheit hochspielen würde.“ Im Gegensatz dazu erklärt der französische Autor Bernard-Henri Levy in New Republik, dass „niemand die Tatsache ignorieren kann, dass sich Präsident Saakaschwili erst dann zu handeln entschloss, als er keine andere Wahl mehr hatte und der Krieg schon da war. Trotz dieser Anhäufung von Fakten, die allen gewissenhaften, aufrichtigen Beobachtern hätten ins Auge stechen müssen, eigneten sich viele Medienleute wie ein Mann eiligst die These von den Georgiern als den Anstiftern an, als den verantwortungslosen Provokateuren dieses Krieges.“

Das russische Propagandasystem machte den Fehler, Beweise zu präsentieren, die umstandslos widerlegt wurden. Seine westlichen Pendants beschränken sich klugerweise auf autoritative Verlautbarungen, wie Levys Anprangerung der führenden westlichen Medien für ihre Nichtbeachtung dessen, was „allen gewissenhaften, aufrichtigen Beobachtern ins Auge sticht“, für die Loyalität dem Staat gegenüber ausreicht, DIE Wahrheit festzustellen – was sogar stimmen könnte, wie ernsthafte Analysten schließen mögen.

Die Russen sind dabei, den „Propagandakrieg“ zu verlieren, berichtete die BBC, da es Washington und seinen Verbündeten gelungen ist, „die russischen Aktionen als Aggression darzustellen und den georgischen Angriff vom 7. August gegen Südossetien, der die russische Operation auslöste, herunterzuspielen“, obwohl „die Beweise aus Südossetien bezüglich dieses Angriffs darauf hindeuten, dass er großflächig und zerstörerisch war“. Russland hat „noch nicht gelernt, wie man das Spiel mit den Medien betreibt“, so die BBC. Das ist normal. Typischerweise wird die Propaganda immer ausgeklügelter, je freier die Länder werden und je mehr der Staat die Fähigkeit verliert, die Bevölkerung mittels Gewalt zu kontrollieren.

Das Versagen der Russen, glaubwürdige Beweise zu präsentieren, wurde teilweise von der Financial Times wettgemacht. Sie deckte auf, dass das Pentagon kurz vor dem georgischen Angriff am 7. August für die georgischen Spezialeinheiten ein Kampftraining durchführte, Enthüllungen, die „den Anschuldigungen, die Wladimir Putin, der russische Premierminister, letzten Monat machte, dass die USA den Krieg in der georgischen Enklave ‚dirigiert‘ hätten, Nahrung geben könnten.“ Das Training wurde teilweise von ehemaligen Angehörigen von US-Spezialtruppen durchgeführt, die von privaten Söldnerfirmen angeheuert worden waren, unter anderem von MPRI. Wie die Zeitung feststellt, „wurde MPRI 1995 vom Pentagon beauftragt, das kroatische Militär zu trainieren, und zwar vor der Invasion in die von ethnischen Serben bewohnte Region Krajina, die zur Vertreibung von 200.000 Flüchtlingen führte und einer der schlimmsten Vorfälle ethnischer Säuberung während des Krieges auf dem Balkan war.“ Die von den USA unterstützte Vertreibung aus der Krajina (allgemein geschätzt 250.000 Menschen, davon viele getötet) war wahrscheinlich der schlimmste Fall ethnischer Säuberung in Europa seit dem 2. Weltkrieg. Ihr Schicksal in der anerkannten Geschichte entspricht eher dem von Fotografien von Trotzki im stalinistischen Russland, aus dem einfachen und ausreichenden Grund, dass sie nicht mit dem erforderlichen Bild der noblen USA in Konfrontation mit dem serbischen Bösen übereinstimmt.

Die Zahl der Opfer des Kaukasuskriegs im August 2008 ist Gegenstand unterschiedlicher Schätzungen. Einen Monat danach zitierte die Financial Times russische Berichte, dass „mindestens 133 Zivilisten sowie 59 russische Soldaten der eigenen Friedenstruppe bei dem Angriff gestorben sind“, während bei der anschließenden, breit angelegten russischen Invasion und dem Flächenbombardement in Georgien laut Financial Times 215 Georgier starben, davon 146 Soldaten und 69 Zivilisten. Weitere Enthüllungen sind zu erwarten.

Im Hintergrund stehen zwei entscheidende Fragen. Die eine ist die der Kontrolle über die Pipelines nach Aserbaidschan und Zentralasien. Georgien war von Clinton als Korridor gewählt worden, um Russland und Iran zu umgehen, und war für diesen Zweck auch stark militarisiert worden. Deshalb ist Georgien „für uns strategisch sehr bedeutend“, so Zbigniew Brzezinski.

Es ist bemerkenswert, dass Analysten weniger zurückhaltend darin werden, die wirklichen Absichten der USA in der Region zu erklären, je mehr die Vorwände von unmittelbarer Bedrohung und Befreiung in den Hintergrund treten und es schwieriger wird, die irakischen Forderungen nach einem Abzug der Besatzungsarmee in andere Bahnen zu lenken. So kritisierte die Washington Post Barack Obama dafür, dass er Afghanistan als die „Hauptfront“ der Vereinigten Staaten ansieht. Sie erinnerten ihn daran, dass der Irak „im geopolitischen Zentrum des Nahen Ostens liegt und einen Teil der größten Ölreserven der Welt beherbergt“ und dass Afghanistans „strategische Bedeutung neben der des Irak verblasst.“ Eine willkommene, wiewohl etwas verspätete Anerkennung der Realität, die der US-Invasion zugrunde liegt.

Die zweite Frage ist die Osterweiterung der NATO, die von George Kennan 1997 als „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik während der gesamten Zeit seit Ende des Kalten Krieges bezeichnet wird, [von dem] zu erwarten ist, dass er die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung in Russland anheizen wird, einen abträglichen Effekt auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben und die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wieder herstellen wird.“

Im Zuge des Zusammenbruchs der UdSSR machte Michael Gorbatschow ein Zugeständnis, das im Lichte der jüngeren Vergangenheit und der strategischen Realitäten erstaunlich war: er erklärte sich damit einverstanden, dass ein vereintes Deutschland sich einem feindlichen Militärbündnis anschließt. Dieses „verblüffende Zugeständnis“ wurde von den westlichen Medien, der NATO und Präsident Bush I gepriesen, der es als eine Demonstration von „Staatskunst … im Interesse aller europäischen Länder einschließlich der Sowjetunion“ bezeichnete.

Gorbartschow machte dieses verblüffende Zugeständnis auf der Basis von „Zusicherungen, dass die NATO ihren Zuständigkeitsbereich nicht weiter nach Osten ausdehnen würde, ‘nicht einen Zoll’, wie es [Außenminister] Jim Baker wörtlich ausdrückte.“ Dieser Erinnerer von Jack Matlock, dem führenden Sowjetexperten des Auswärtigen Dienstes und in den entscheidenden Jahren zwischen 1987 und 1991 US-Botschafter in Russland, wird von Strobe Talbott bestätigt, dem ranghöchsten Verantwortlichen der Clinton-Regierung für Osteuropa. Auf Basis einer vollständigen Durchsicht der diplomatischen Akten berichtet Talbott, dass „Außenminister Baker dem damaligen sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse, im Zusammenhang mit der zurückhaltenden Bereitschaft der Sowjetunion, ein vereintes Deutschland in der NATO verbleiben zu lassen, tatsächlich gesagt hat, dass die NATO sich nicht nach Osten erweitern würde.“

Clinton brach diese Vereinbarung prompt und überging auch Gorbatschows Versuch, den Kalten Krieg durch eine Zusammenarbeit zwischen Partnern zu beenden. Die NATO wies auch den russischen Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone von der Arktis bis zum Schwarzen Meer zurück, was „Pläne zur Erweiterung der NATO gestört“ hätte, so der Strategieanalyst und einstige NATO-Planer Michael MccGwire.

Indem sie diese Möglichkeiten zurückwiesen, bezogen die USA die selbstgefällige Pose des Siegers, was Russlands Sicherheit bedrohte und auch eine wichtige Rolle dabei spielte, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des Landes herbeizuführen, der Millionen Menschen das Leben kostete. Dieser Prozess wurde massiv durch Bushs zusätzliche NATO-Erweiterungen, seine Aufkündigung entscheidender Abrüstungsabkommen und seinen aggressiven Militarismus beschleunigt. Matlock schreibt, dass Russland die Aufnahme von ehemaligen russischen Satellitenstaaten in die NATO vielleicht toleriert hätte, wenn diese „nicht Serbien bombardiert und ihre Erweiterung fortgesetzt hätte. Aber schlussendlich waren es antiballistische Raketen in Polen und die Ansteuerung der Aufnahme von Georgien und Ukraine in die NATO, die alle Grenzen überschritten. Das Bestehen auf die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo war dann so etwas wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Putin hatte verstanden, dass Zugeständnisse an die USA nicht erwidert, sondern vielmehr dazu verwendet werden, die weltweite Vorherrschaft der USA zu fördern. Als er dann die Kraft hatte sich zu wehren, tat er es“ in Georgien.

Regierungsangestellte aus der Zeit der Clinton-Regierung argumentieren, dass die NATO-Erweiterung keine militärische Bedrohung darstellt, dass sie nicht mehr war als ein großzügiger Schritt, um ehemaligen russischen Satelliten den Eintritt in die EU zu erlauben (Talbott). Aber das ist kaum überzeugend. Österreich, Schweden und Finnland sind in der EU, aber nicht in der NATO. Wenn der Warschauer Pakt überlebt hätte und lateinamerikanische Länder aufnehmen würde – ganz zu schweigen von Kanada und Mexiko – wären die USA nur schwer davon zu überzeugen, dass der Pakt nur ein Debattierklub ist. Es dürfte an dieser Stelle nicht nötig sein, die Gewaltakte der USA durchzugehen, die verübt wurden, um meist eingebildete Verbindungen mit Moskau zu unterbinden „in unserer kleinen Region hier“, der westlichen Hemisphäre, um Kriegsminister Henry Stimson zu zitieren, der erklärte, dass alle regionalen Bündnisse nach dem 2. Weltkrieg abgebaut werden müssen außer unseren eigenen, die ausgebaut werden müssen.

Um diese Schlussfolgerung zu unterstreichen: Washington äußerte mitten im der derzeitigen Krise im Kaukasus Besorgnis darüber, dass Russland seine militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit mit Kuba wieder aufnehmen könnte auf einem Niveau, das nicht annähernd an die Zusammenarbeit zwischen den USA und Georgien heranreichen und sicher keinen Schritt hin zu einer ernsthaften Sicherheitsbedrohung darstellen würde.

Auch der Raketenabwehrschild wird hier als ungefährlich dargestellt, obwohl führende US-Strategieanalysten dargelegt haben, warum die russischen Planer dieses System und den dafür vorgesehenen Standort als Grundlage für eine potenzielle Bedrohung des russischen Abschreckungspotenzials und somit de facto als Erstschlagswaffe ansehen müssen. Die russische Invasion Georgiens wurde als Vorwand dafür verwendet, um das Abkommen über die Stationierung dieses Systems in Polen endgültig abzuschließen, womit gleichzeitig „ein Argument unterstützt wurde, das von Moskau wiederholt geäußert und von Washington zurückgewiesen worden ist: dass das wahre Ziel dieses Systems Russland ist“, so Desmond Butler von Associated Press.

Matlock ist nicht allein darin, dass er Kosovo einen wichtigen Faktor ansieht. „Die Anerkennung der Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien war gerechtfertigt auf Basis des Prinzips, dass eine misshandelte Minderheit das Recht zur Abspaltung hat – das Prinzip, das Bush für den Kosovo eingeführt hatte“, kommentiert die Redaktion des Boston Globe.

Aber es gibt wesentliche Unterschiede. Strobe Talbott erkennt zwar an, dass „den USA und der NATO in einem gewissen Maße das heimgezahlt wird, was sie vor neun Jahren im Kosovo getan haben”, besteht aber darauf, dass „die Analogie absolut und vollkommen falsch ist“. Niemand ist in einer besseren Position um zu wissen, warum sie vollkommen falsch ist, und er hat die Gründe in erhellender Weise in seinem Vorwort zu einem Buch seines Kollegen John Norris über die Bombardierung Serbiens durch die NATO dargelegt. Talbott schreibt, dass diejenigen, die wissen wollen, „wie die Ereignisse damals für die diejenigen von uns aussahen, die an ihnen beteiligt waren“, Norris’ kenntnisreiche Darstellung lesen sollten. Norris kommt zu dem Schluss, dass „es Jugoslawiens Widerstand gegen die allgemeinen Trends der politischen und wirtschaftlichen Reform war – nicht das Los der Kosovoalbaner –, der den Krieg der NATO am besten erklärt.”

Dass das Motiv für das NATO-Bombardement nicht „das Los der Kosovoalbaner” gewesen sein konnte, ging bereits aus den umfangreichen westlichen Dokumenten hierzu hervor, die enthüllten, dass die Gräueltaten größtenteils die vorhergesehene Konsequenz der Bombardierungen waren und nicht ihre Ursache. Aber sogar vor der Freigabe dieser Dokumente hätte es für alle außer den leidenschaftlichsten Loyalisten offensichtlich sein sollen, dass humanitäre Erwägungen die USA und Großbritannien schwerlich angetrieben haben könnten, die ja gleichzeitig Gräueltaten entscheidend unterstützten, die weit über das hinausgingen, was aus dem Kosovo berichtet wurde, und einen Hintergrund haben, der weit schrecklicher ist als alles, was auf dem Balkan passiert ist. Aber das sind bloß Fakten und also kein Faktor für Orwellsche „Nationalisten“ – in diesem Falle die Mehrheit der westlichen Intellektuellen, die ein erstaunliches Maß an Selbstverherrlichung und Ausflüchten bezüglich der „noblen Phase“ der US-Außenpolitik und ihrem „heiligen Leuchten“ gegen Ende des Jahrtausends an den Tag legten – mit der Bombardierung von Serbien als Juwel in der Krone.

Trotzdem ist es interessant, von höchster Ebene zu hören, dass der wirkliche Grund für die Bombardierung darin lag, dass Serbien in Europa einsamen Widerstand leistete gegen die politischen und wirtschaftlichen Programme der Clinton-Regierung und ihrer Verbündeten, obwohl es noch lange dauern wird, bis solche Ärgernisse Teil des offiziellen Kanons werden.

Es gibt natürlich auch andere Unterschiede zwischen Kosovo und den Gebieten von Georgien, die nach Unabhängigkeit oder nach Eintritt in die Russische Föderation streben. So ist nichts darüber bekannt, dass Russland dort eine riesige, nach einem Helden der Invasion in Afghanistan benannte Militärbasis hätte, vergleichbar mit Camp Bondsteel im Kosovo, benannt nach einem Kriegshelden aus Vietnam und vermutlich Teil des ausgedehnten Systems von US-Militärstützpunkten, die auf die Energie erzeugenden Regionen des Nahen Ostens ausgerichtet sind. Und es gibt viele andere Unterschiede.

Es wird viel über einen „neuen Kalten Krieg“ geredet, der durch das brutale Verhalten Russlands gegenüber Georgien ausgelöst worden sei. Es ist unmöglich, nicht beunruhigt zu sein über die Zeichen einer Konfrontation, darunter neue US-amerikanische Marineverbände im Schwarzen Meer – deren Gegenstück in der Karibik schwerlich toleriert werden würde. Bemühungen, die NATO bis zur Ukraine auszudehnen, was jetzt erwogen wird, könnten die Gefährdungssituation erheblich verschärfen.

Trotzdem scheint ein neuer Kalter Krieg unwahrscheinlich. Um die Aussicht darauf abzuschätzen, sollten wir uns zuerst einmal eine klare Vorstellung vom alten Kalten Krieg verschaffen. Von wilder Rhetorik abgesehen war der Kalte Krieg praktisch eine stillschweigende Übereinkunft, nach der jeder der Beteiligten weitgehend das Recht hatte, seine eigene Einflusssphäre mit Gewalt und Subversion zu kontrollieren. Für Russland waren das seine östlichen (westlichen? - Anm. d. Ü.) Nachbarn, für die globale Supermacht der Großteil der Welt. Eine Wiederbelebung solcher Zustände braucht die Menschheit nicht zu ertragen – und würde sie vielleicht auch nicht überleben.

Eine vernünftige Alternative ist die Version Gorbatschows, die von Clinton zurückgewiesen und von Bush unterminiert worden ist. Einen vernünftigen Rat in diese Richtung gab jüngst der ehemalige israelische Außenminister und Historiker Shlomo ben-Ami in einem Artikel im Beiruter Daily Star: „Russland muss eine echte strategische Partnerschaft mit den USA anstreben, und diese müssen verstehen, dass Russland, wenn man es ausgrenzt und verachtet, sich zu einem globalen Spielverderber größeren Stils entwickeln kann. Seit Ende des Kalten Krieges von den USA ignoriert und gedemütigt, braucht Russland jetzt die Integration in eine neue globale Ordnung, die seine Interessen als eine wieder erstarkende Macht respektiert, und keine antiwestliche Konfrontationsstrategie.“

Übersetzt von: Eva-Maria Bach und Benjamin Brosig


http://www.zmag.de/artikel/ossetien-2013-georgien-2013-russland-2013-usa

Georgien. die Propaganda und die Repression

"Wir leben in Georgien unter einer totalen Propaganda"

Gespräch mit Lasha Shavdia. Über einen Abenteurer an der Spitze des Staates und über eiskalte Schachspieler in Moskau. Und über die Notwendigkeit, zu Rußland wieder freundschaftliche Beziehungen herzustellen

Lasha Shavdia ist ein führender Aktivist der georgischen Friedensbewegung. Er hat ein Pseudonym gewählt, da er nach seiner Rückkehr Repressalien fürchtet, falls der georgische Geheimdienst seine Identität herausfindet. *


Nach dem Kaukasus-Krieg haben die Medien im Westen meist für Georgien Partei ergriffen, sie präsentieren das Land als Opfer russischer Großmachtspolitik. Wie stellt sich die Sachlage für Sie als führender Aktivist der georgischen Friedensbewegung dar?

Es ist durchaus richtig, daß Georgien Opfer russischer Expansionspolitik ist. Es ist aber noch richtiger, wenn wir es so formulieren: Georgien ist zum Opfer der Konfrontation der großen imperialistischen Mächte geworden. Auf der einen Seite stehen die USA, die die NATO an ihrer Seite weiß, auf der anderen steht Rußland.

In Deutschland wird der Eindruck erweckt, fast alle Georgier scharten sich jetzt hinter Präsident Michail Saakaschwili, von einer Opposition liest man nur selten etwas. Gibt es in Ihrem Land eine ernst zu nehmende Gegenkraft?

Saakaschwili hat keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Ich gebe zu, daß er zu Beginn seiner Amtszeit durchaus breiten Zuspruch hatte, weil er den Kampf gegen die Korruption aufnahm. Das ist aber längst Vergangenheit – die schlimmste Häufung von Korruption findet sich heute ausgerechnet in seiner eigenen Regierung. Seine Minister kontrollieren über Strohmänner so gut wie alle großen Unternehmen, die Einfluß in Georgien haben.

Die Minister nutzen also ihr Amt, um in die eigene Tasche zu wirtschaften?

So ist es. Das ist aber auch nicht neu in meinem Land. Unter der Regierung von Eduard Schewardnadse wurden diese Firmen auch schon von dessen Ministern kontrolliert – seitdem Saakaschwili an der Macht ist, sind zur Abwechslung mal seine Leute am Zuge.

Wird darüber in der Öffentlichkeit diskutiert?

Jeder weiß davon. Auch wenn die georgischen Medien über die allgegenwärtige Korruption schweigen – es wird überall darüber diskutiert.

Gibt es in Georgien eigentlich unabhängige Medien?

Es gibt durchaus einige Zeitungen und Zeitschriften, die Saakaschwili recht offen kritisieren. Aber alle Radio- und TV-Stationen sind auf Regierungslinie, bis auf den Fernsehsender Kafkasya. Der hat allerdings nur eine sehr geringe Reichweite, man kann ihn eigentlich nur in der Hauptstadt Tbilissi empfangen. Vor dem Krieg gab es noch Fernsender, die in russischer Sprache ausstrahlten – bis auf einen, der in Rußland als Oppositionssender gilt, wurden alle abgeschaltet. Seit dem Krieg werden auch alle russischsprachigen Internetseiten blockiert.

Aus russischer Sicht wurde der Krieg durch einen Angriff Georgiens auf Südossetien ausgelöst. Saakaschwili hingegen sagt, seine Truppen hätten lediglich auf russische Provokationen reagiert. Wer hat denn aus Ihrer Sicht den Anfang gemacht?

Beide Seiten wußten, daß es irgendwann zu einer Konfrontation kommen wurde, beide waren auch darauf vorbereitet. Deshalb hat auch Rußland zu dieser Tragödie beigetragen. Den größten Teil der Verantwortung tragen aber Saakaschwili und seine Regierung – der Einmarsch der georgischen Truppen war schließlich der Auslöser des Krieges.

Georgien hat den Krieg verloren – wie ist jetzt die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Rußland? Gibt es Verständnis für die strategischen Sorgen der Führung in Moskau, die offenbar verhindern will, daß die NATO unmittelbar vor ihrer Haustür neue Stützpunkte einrichtet?

Die Stimmung ist differenziert. Zum einen wissen die meisten Georgier sehr genau, daß es bei uns ohne Rußland und ohne die wirtschaftlichen Beziehungen zur russischen Industrie keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben wird. Die Bevölkerung weiß auch, daß die ethnischen Konflikte, die seit den 90er Jahren so heftig aufgeflammt sind, nur dadurch gelöst werden können, daß die Freundschaft zu Rußland wiederhergestellt wird. Es ist verständlicherweise jedoch sehr schwer, diejenigen Georgier davon zu überzeugen, die aus Südossetien und Abchasien vertrieben wurden. Jeder weiß auch, daß Rußland schon seit langem in diesen beiden Territorien diejenigen unterstützt, die eine Abtrennung von Georgien wollen. Das Ergebnis ist, daß aus diesen Territorien 160000 Menschen geflüchtet sind, von denen allerdings einige schon wieder zurückgekehrt sind.

Freundschaft ist eben mehr als nur eine politische Losung, man muß sich auch entsprechend verhalten. Das gilt natürlich für beide Seiten. Und die Freundschaft wird nicht gerade dadurch gefördert, daß Georgien Mitglied der NATO werden und Stützpunkte des Bündnisses auf seinem Territorium einrichten will. Aber unsere Bevölkerung versteht es nicht, daß Rußland offensichtlich keine andere Möglichkeit gesehen hat, als diese Konflikte militärisch zu lösen.

Welche Alternativen hätte es denn gegeben?

Der richtige Zeitpunkt dafür wurde leider verpaßt. Nach dem Zerfall der UdSSR, Anfang der 90er Jahre also, bekam Georgien eine nationalistische Regierung, die das Land sofort in Richtung NATO lenken wollte. Und die russische Regierung unter Präsident Boris Jelzin hatte überhaupt kein Konzept, welche Politik sie im Kaukasus betreiben sollte. 1999 hat Jelzin z. B. in Istanbul ein Abkommen zur konventionellen Abrüstung in Europa unterzeichnet. Eine Folge war, daß anschließend der größte Teil der noch in Georgien stationierten russischen Streitkräfte abgezogen wurde. Die letzten Einheiten verließen unser Land erst im vergangenen Jahr. Und dieses Jahr sind die Russen wieder einmarschiert.

Für Abchasien und Südossetien gab es ein Friedensabkommen, dem auch Georgien zugestimmt hat. Demnach durfte Rußland dort Friedenstruppen stationieren.

Das ist richtig, es gab dort aber auch reguläre Einheiten der russischen Armee, die nicht unter das Friedensabkommen fielen. Dort wurden auch abchasische und südossetische Truppen durch russische Instrukteure ausgebildet. Ähnlich wie in Georgien selbst, wo viele Militärausbilder aus den USA eingesetzt wurden, und zwar auf Basis des NATO-Programms »Partnership for Peace«.

Es ist offenkundig Strategie der NATO, immer dichter an die Grenzen Rußlands heranzurücken – das hat man im Baltikum gesehen, in Polen, in Bulgarien und jetzt auch in Georgien. Wie reagiert die Bevölkerung darauf? Gibt es Sympathie für die NATO?

Die Bevölkerung reagiert eher negativ darauf, sie weiß genau, daß die Präsenz der NATO auf unserem Territorium brandgefährlich wäre. Die meisten fürchten, daß der soeben verlorene Krieg möglicherweise nicht die letzte Tragödie war. Georgien könnte zu einer Arena für weitere militärische Konflikte werden. Den meisten ist es auch durchaus bewußt, daß die Wiederherstellung der freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland in weite Ferne rückt, sobald die NATO sich bei uns eingenistet hat. Und eines dürfen wir auch nicht vergessen: Etwa 1,8 Millionen Georgier leben zur Zeit in Rußland. Sie arbeiten dort und überweisen viel Geld zur Unterstützung ihrer Familien. Das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für uns.

Die NATO hat auch ihre Hand nach der Ukraine ausgestreckt – dort sprechen sich jedoch laut Umfragen über 60 Prozent der Bevölkerung gegen einen Beitritt zum Bündnis aus. Gibt es solche Erhebungen auch für Georgien?

Am 5. Januar hatten wir Präsidentschaftswahlen, parallel dazu wurde den Wählern auch die Frage gestellt, ob sie für einen Beitritt zur NATO sind. Die zentrale Wahlkommission gab anschließend bekannt, 79 Prozent hätten diese Frage mit Ja beantwortet. Wir wissen aber genau, daß sowohl das Ergebnis der Präsidentschaftswahl als auch das dieses Referendums gefälscht war. Die Zahl ist mit Sicherheit zu hoch. Ich schätze mal, daß jeder zweite gegen einen Beitritt ist – und das unter den Bedingungen einer totalen Propaganda, die jeden Winkel unseres Landes erfaßt.

Leider ist es jetzt so, daß der Einmarsch russischer Truppen genau dieser NATO-Propaganda in die Hände spielt. Die USA stellen sich nun als Beschützer und großen Freund Georgiens dar, als Garant für die territoriale Integrität meines Landes. Das führt dazu, daß sogar die Zeitungen und Zeitschriften, die als regierungskritisch gelten, den NATO-Beitritt befürworten.

Hinzu kommt eine massive Propaganda der NATO selbst, die hierfür sogar eigene Strukturen geschaffen hat. Da gibt es zum einen das Informationszentrum der NATO in der Hauptstadt Tiblissi. Dann gibt es zwei NATO-Niederlassungen im Osten und im Westen Georgiens. Diese Propagandabüros verfügen über Geld ohne Ende, sie produzieren Zeitschriften, Informationsbroschüren, Comic-Hefte für Kinder, Material für Schulen, sie organisieren Veranstaltungen. Alles nach dem Motto: »Die NATO bringt Frieden und Glück für das gesamte georgische Volk«.

Die NATO will Georgien wieder aufrüsten – an Geld soll wohl nicht gespart werden. Ist der Bevölkerung bewußt, daß damit Rußland erneut gereizt wird? Es ist schwer vorstellbar, daß sich Moskau das gefallen lassen wird.

Die USA haben schon erste Schritte unternommen, um die militärische Infrastruktur zu ersetzen, die die Russen zerstört haben. Es ist in der Tat ein Spiel mit dem Feuer, das Saakaschwili und seine Freunde in den USA betreiben. Rußland hat seit dem kürzlichen Krieg immer wieder deutlich gemacht, daß die militärische Unterstützung Georgiens durch die USA unterbunden werden muß. Den meisten Georgiern ist durchaus bewußt, in welcher Gefahr wir sind.

Sie gehören zur Friedensbewegung Ihres Landes. Wie relevant ist die eigentlich? Können Sie sich in der Bevölkerung Gehör verschaffen?

Unsere Friedensbewegung ist noch nicht sehr alt, wir sind eigentlich erst seit zwei, drei Jahren richtig aktiv. Wir haben vor allen Dingen versucht, unter den Flüchtlingen dafür zu werben, daß sie wieder Freundschaft mit der südossetischen und abchasischen Bevölkerung schließen. Wir betonen auch immer wieder, daß der Versuch, die territoriale Integrität Georgiens auf militärischem Wege herzustellen, ein großer Fehler war. Die Reaktionen auf unsere Argumente waren bisher durchaus ermutigend.

Darüber hinaus bemühen wir uns, gute Kontakte zu den Südosseten und Abchasiern zu entwickeln. Wir helfen auch dabei, wieder friedliche und auch freundschaftliche Beziehungen zwischen den Flüchtlingen und ihren früheren Nachbarn und Bekannten zu entwickeln. Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld ist für uns, die politische Situation im Kaukasus zu analysieren. Bedauerlicherweise sind die meisten Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sehr einseitig: Entweder proamerikanisch oder prorussisch. Wir wollen aber ein objektives Bild der Lage.

Wie reagiert die georgische Regierung auf Sie?

Es wäre maßlos übertrieben, wenn ich sagen würde, daß die politische Atmosphäre bei uns etwas mit Demokratie zu tun hätte. Jede Stimme wird sofort unterdrückt, die für die Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen zu Rußland, zu Abchasien oder Südossetien wirbt. Das gleiche gilt für alle Äußerungen gegen den Beitritt Georgiens zur NATO.

Wie sieht das konkret aus? Gibt es Repressalien?

An erster Stelle würde ich die massive NATO-Propaganda nennen. Zweitens werden Aktivisten der Friedensbewegung offen drangsaliert. Es gibt Festnahmen, unsere Leute bekommen Drohanrufe vom georgischen Geheimdienst oder werden von dessen Agenten auf der Straße angemacht, eingeschüchtert und bedroht. Einer unserer Mitarbeiter wurde vor wenigen Tagen verhaftet, und zwar von der Spionageabwehr, die dem Innenministerium untersteht. Er wurde sechs Stunden lang festgehalten, beschimpft und angepöbelt. Und schließlich wurde er von vier Geheimdienstleuten verprügelt. Das war bisher der krasseste Fall.

Darüber hinaus wird versucht, alle Informationen zu blockieren, die der offi­ziellen Propaganda widersprechen oder dazu aufrufen, wieder freundschaftliche Beziehungen zu Rußland aufzunehmen, oder Argumente gegen den NATO-Beitritt bringen. NATO-Gegner kommen weder in Zeitungen und Zeitschriften noch in den elektronischen Medien zu Wort, offenbar gibt es unter den Redaktionen feste Absprachen. Hin und wieder drucken wir auch Informationsmaterial. Damit kommen wir aber auch nicht sehr weit, denn Zeitungskioske weigern sich meistens, sie auszulegen. Wenn sie es doch tun, wird das Material von den Behörden konfisziert.

Können Sie sich wenigstens über Internet artikulieren?

Im Prinzip ja, es ist aber viel komplizierter geworden. Wir sind zwar dabei, eine eigene Homepage einzurichten, die wird sich aber wohl nur halten lassen, wenn sich die politische Situation geändert hat. Wir hoffen, daß das nicht mehr lange dauert, denn die Regierung von Saakaschwili kann die Bevölkerung nicht ewig diesem Druck aussetzen.

Wie würden Sie Saakaschwili charakterisieren? Charismatischer Staatsmann? Vabanquespieler?

Ein verantwortungsloser Abenteurer. Er ist eitel, will Eindruck schinden, er ist sprunghaft. Ich glaube nicht, daß er seine Entscheidungen gründlich bedenkt. Natürlich gibt es auch für ihn gewisse Sachzwänge – er hätte aber durchaus genügend Spielraum für vernünftige Entscheidungen. Leider kommt aber meist Unvernünftiges dabei heraus. Sogar US-Außenministerin Condoleezza Rice soll ihn gewarnt haben, militärisch gegen Südossetien vorzugehen – aber nicht einmal das hat ihn beeindruckt.

Es wird erzählt, er halte seine Fernsehansprachen auf englisch ...

Das ist natürlich ein Witz, der sicher eine gewisse Grundlage hat. Nein, er spricht bei solchen Gelegenheiten georgisch.

Er hat ja lange in den USA gelebt. Es wird berichtet, er sei auch amerikanischer Staatsbürger. Insgesamt sieben Minister seiner Regierung sollen ausländische Pässe haben.

Davon weiß ich nichts. Allerdings haben unsere Minister ein nicht unbeträchtliches Vermögen im Ausland. Tatsache ist auch, daß während des georgisch-russischen Krieges eben diese Minister entweder auf dem Weg ins Ausland waren oder sich in unmittelbarer Nähe von Grenzübergängen aufhielten. Rein zufällig natürlich!

Wie würden Sie Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew charakterisieren, den Regierungschef und den Präsidenten Rußlands?

Beide sind eiskalte Schachspieler. Sie sind die Erben des Jelzin-Regimes, Repräsentanten der oligarchischen Bourgeoisie Rußlands. Sie sehen ihr Land und die internationalen Beziehungen mit den Augen von Milliardären, verteidigen also in erster Linie die Interessen der Oligarchie. Erst an zweiter Stelle kommt für sie das Interesse des einfachen Volkes – diese Einschätzung gilt auch für ihre Kriegsführung im georgisch-russischen Konflikt.

Müssen Sie nicht mit Repressalien rechnen, wenn Sie zurückkommen und der georgische Geheimdienst findet heraus, daß Sie in der deutschen Presse die Politik Ihrer Regierung kritisiert haben?

Das ist durchaus möglich, deswegen möchte ich auch lieber anonym bleiben.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, 27. September 2008